Geschwindig­keits­über­schrei­tungen

by | Jan 24, 2019 | Strassen­verkehrs­recht

Geschwindigkeits­über­schrei­tungen – Wann liegt eine Not­fall­fahrt vor?

Im Strassen­verkehrs­gesetz (SVG) wird zwischen drei Stufen von Verkehrs­regel­ver­letzungen unterschieden: einfache (nach Artikel 90 Absatz 1 SVG), grobe (nach Artikel 90 Absatz 2 SVG) und „krasse“ Verkehrs­regel­ver­letzungen(nach Artikel 90 Absatz 3-4 SVG, sog. Raserdelikte). Keine der Tatbestands­varianten von Artikel 90 SVG setzt voraus, dass durch die Verkehrs­regel­ver­letzung jemand zu Schaden gekommen ist oder konkret gefährdet wurde, in der Juristensprache wird von abstrakten Gefährdungs­delikten gesprochen.

Eine einfache Verkehrs­regel­verletzung wird mit Busse bestraft (Artikel 90 Abs. 1 SVG). Eine Verur­teilung aufgrund einer Geschwindig­keits­über­schreitung im Bereich von Absatz 1 wird nicht im Strafregister eingetragen. Wird ein Administrativ­verfahren eröffnet, so hat dies eine Verwarnung oder einen Führer­ausweis­entzug von mindestens einem Monat zur Folge (Artikel 16a und 16b SVG).
Wer durch eine grobe Verletzung der Verkehrs­regeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit einer Freiheits­strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Artikel 90 Absatz 2 SVG). Die Verurteilung wird im Straf­register einge­tragen und der Führer­ausweis wird beim ersten Mal für mindestens drei Monate entzogen (Artikel 16c SVG).

Im Bereich der Geschwindig­keits­über­schrei­tungen hat das Bundes­gericht eine sehr schematische Rechts­prechung entwickelt, worin es die Anwendung von Artikel 90 Absatz 2 SVG an bestimmte Tempolimiten knüpft. Werden diese überschritten, wird in der Regel ungeachtet der konkreten Umstände des Falles eine grobe Verkehrs­regel­verletzung angenommen. Differenziert wird lediglich nach der Art der Strasse, auf der die Geschwindigkeitsüberschreitung geschieht. Demnach begeht eine grobe Verkehrs­regel­verletzung, wer die zulässige Höchst­geschwindig­keit auf einer richtungs­getren­nten Autobahn um 35 km/h oder mehr, auf einer nicht richtungs­getren­nten Strasse ausserorts um 30 km/h oder mehr oder innerorts um 25 km/h oder mehr überschreitet.

Im Jahre 2013 wurde im SVG der Raser-Tatbestand eingeführt. So wird mit Freiheitsstrafe von einem bis maximal vier Jahren bestraft, wer durch eine vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht (Artikel 90 Absatz 3 SVG). Zudem muss der fehlbare Lenker seinen Führerausweis für zwei Jahre abgeben, im Wiederholungsfall innerhalb von fünf Jahren für immer (Artikel 16c SVG). Als Raser gilt, wer die zulässige Höchstgeschwindigkeit um einen der in Artikel 90 Absatz 4 SVG festgelegten Richtwerte überschreitet: Wer mit 70 km/h oder mehr durch eine 30er-Zone fährt, also 40 km/h schneller als erlaubt. Oder wer innerorts 50 km/h, ausserorts 60 km/h oder auf der Autobahn 80 km/h zu schnell unterwegs ist. Wer das Tempolimit um einen dieser Richtwerte überschreitet, begeht gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts in jedem Fall eine Verletzung elementarer Verkehrsregeln gemäss Artikel 90 Absatz 3 SVG.

Folgende Geschwindigkeiten lassen sich ableiten:

Zulässig Ordnungs­bus­sen­ver­fahren Art. 90 Abs. 1 SVG Art. 90 Abs. 2 SVG Art. 90 Abs. 4 SVG
30 km/h -45 km/h 46-54 km/h 55-69 km/h 70- km/h
50 km/h -55 km/h 56-74 km/h 75-99 km/h 100- km/h
80 km/h -100 km/h 101-109 km/h 110-139 km/h 140- km/h
120 km/h -145 km/h 146-154 km/h 155-199 km/h 200- km/h

Die Voraussetzungen für eine Notfallfahrt bzw. einen rechtfertigenden Notstand im Sinne von Art. 17 StGB nimmt das Bundesgericht bei einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung nur mit grosser Zurückhaltung an.

Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt gemäss Art. 17 StGB rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.

Eine massive Geschwindig­keits­über­schreitung durch Notstand bzw. Notstands­hilfe ist gemäss Rechts­prechung des Bundes­gerichts höchstens gerechtfertigt, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter wie Leib, Lebens und Gesundheit von Menschen in Frage steht. Selbst in solchen Fällen ist indessen Zurück­haltung geboten. Denn bei erheblichen Geschwindig­keits­über­schrei­tungen ist die konkrete Gefährdung einer unbestim­mten Zahl von Menschen möglich, die sich oft nur zufällig nicht verwirklicht. Eine Annahme eines Notstandes bzw. einer Notstands­hilfe lässt das Bundes­gericht nur dort gelten, wo Leib und Leben auf dem Spiel stehen. Zum Beispiel wenn ein Fahrzeug­lenker jemanden, der schwer wiegende Krankheits­symptome aufweist, möglichst schnell ins Spital bringen muss, oder wenn der Fahrzeug­lenker selber an einer lebens­bedrohlichen gesund­heitlichen Beein­trächti­gung leidet, die ein unver­zügliches Aufsuchen des Spitals erforderlich macht.

Das Bundes­gericht bejahte dies bei einem Familien­vater, der die Höchst­geschwindig­keit ausserorts um 30 km/h überschritt, nachdem ihn die Klink angerufen hatte, da sein Neugeborenes schwere Atemaus­setzer hatte und er im Hinblick auf nötige Entscheidungen für das Kind unverzüglich in die Klinik kommen musste (Urteil des Bundes­gerichts vom 17. Januar 2013, 1C_345/2012).

Der Beweg­grund für einen Tierarzt ein erkranktes Tier rasch zu behandeln, rechtfertigt jedoch gemäss Bundesgericht eine erhebliche Geschwindig­keits­übers­chreitung (in casu Über­schrei­tung der Höchst­geschwindig­keit um 25 km/h innerorts) regelmässig nicht. Selbst wenn der Nachweis einer konkreten Gefährdung anderer nicht erbracht ist. Der zeitliche Gewinn von 2-3 Minuten vermag die mit einer Geschwindig­keits­über­schreitung verbundenen möglichen Gefahren eines Unfalles, eventuell mit tödlichen Folgen, auch bei einigermassen geraden und übersichtlichen Strassen nicht zu rechtfertigen (Urteil des Bundes­gerichts vom 16. März 2010, 6B_7/2010).

Ebenso befand das Bundes­gericht eine erhebliche Beschleunigung des Personen­wagens im Falle plötzlichen Unwohlsein und das Überholen mehrerer Fahrzeuge bei einer Geschwindigkeit von 124 km/h auf einer Kantonsstrasse, um sich so schnell wie möglich bei einem abseits gelegenen Transformatorenhäuschen erleichtern zu können, nicht als zweckmässige und in der Situation gebotene Reaktion. Der Beschwerde­führer hätte die Fahr­geschwindig­keit reduzieren und den Personen­wagen zum Still­stand bringen müssen, um sich anschlies­send von seinem Unwohl­sein zu erholen (Urteil des Bundes­gerichts vom 2. Oktober 2017, 1C_341/2017).

Auch auf Notfall­­fahrten sollten sich Fahrzeug­­lenker deshalb nach Möglichkeit an die Geschwindig­­keits­­beschrän­kungen halten. Zudem sparen gemäss einer Studie der ADAC vom März 2011 Überhol­manöver meist weniger Zeit als man glaubt. Durch Überholen lässt sich auf deutschen Land­strassen (Höchst­geschwindig­keit 100 km/h) relativ wenig Fahrzeit einsparen. Im Durchschnitt der Test­fahrten waren es 9,5%. Bei durch­schnittlichen Fahr­strecken von knapp 20 km sind das nur 1,5 Minuten. Nennenswerte Zeit­vorteile ergaben sich fast nur durch das Über­holen von Lastwagen.