Geschwindigkeitsüberschreitungen
Geschwindigkeitsüberschreitungen – Wann liegt eine Notfallfahrt vor?
Im Strassenverkehrsgesetz (SVG) wird zwischen drei Stufen von Verkehrsregelverletzungen unterschieden: einfache (nach Artikel 90 Absatz 1 SVG), grobe (nach Artikel 90 Absatz 2 SVG) und „krasse“ Verkehrsregelverletzungen(nach Artikel 90 Absatz 3-4 SVG, sog. Raserdelikte). Keine der Tatbestandsvarianten von Artikel 90 SVG setzt voraus, dass durch die Verkehrsregelverletzung jemand zu Schaden gekommen ist oder konkret gefährdet wurde, in der Juristensprache wird von abstrakten Gefährdungsdelikten gesprochen.
Eine einfache Verkehrsregelverletzung wird mit Busse bestraft (Artikel 90 Abs. 1 SVG). Eine Verurteilung aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Bereich von Absatz 1 wird nicht im Strafregister eingetragen. Wird ein Administrativverfahren eröffnet, so hat dies eine Verwarnung oder einen Führerausweisentzug von mindestens einem Monat zur Folge (Artikel 16a und 16b SVG).
Wer durch eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Artikel 90 Absatz 2 SVG). Die Verurteilung wird im Strafregister eingetragen und der Führerausweis wird beim ersten Mal für mindestens drei Monate entzogen (Artikel 16c SVG).
Im Bereich der Geschwindigkeitsüberschreitungen hat das Bundesgericht eine sehr schematische Rechtsprechung entwickelt, worin es die Anwendung von Artikel 90 Absatz 2 SVG an bestimmte Tempolimiten knüpft. Werden diese überschritten, wird in der Regel ungeachtet der konkreten Umstände des Falles eine grobe Verkehrsregelverletzung angenommen. Differenziert wird lediglich nach der Art der Strasse, auf der die Geschwindigkeitsüberschreitung geschieht. Demnach begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung, wer die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einer richtungsgetrennten Autobahn um 35 km/h oder mehr, auf einer nicht richtungsgetrennten Strasse ausserorts um 30 km/h oder mehr oder innerorts um 25 km/h oder mehr überschreitet.
Im Jahre 2013 wurde im SVG der Raser-Tatbestand eingeführt. So wird mit Freiheitsstrafe von einem bis maximal vier Jahren bestraft, wer durch eine vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht (Artikel 90 Absatz 3 SVG). Zudem muss der fehlbare Lenker seinen Führerausweis für zwei Jahre abgeben, im Wiederholungsfall innerhalb von fünf Jahren für immer (Artikel 16c SVG). Als Raser gilt, wer die zulässige Höchstgeschwindigkeit um einen der in Artikel 90 Absatz 4 SVG festgelegten Richtwerte überschreitet: Wer mit 70 km/h oder mehr durch eine 30er-Zone fährt, also 40 km/h schneller als erlaubt. Oder wer innerorts 50 km/h, ausserorts 60 km/h oder auf der Autobahn 80 km/h zu schnell unterwegs ist. Wer das Tempolimit um einen dieser Richtwerte überschreitet, begeht gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts in jedem Fall eine Verletzung elementarer Verkehrsregeln gemäss Artikel 90 Absatz 3 SVG.
Folgende Geschwindigkeiten lassen sich ableiten:
Zulässig | Ordnungsbussenverfahren | Art. 90 Abs. 1 SVG | Art. 90 Abs. 2 SVG | Art. 90 Abs. 4 SVG |
30 km/h | -45 km/h | 46-54 km/h | 55-69 km/h | 70- km/h |
50 km/h | -55 km/h | 56-74 km/h | 75-99 km/h | 100- km/h |
80 km/h | -100 km/h | 101-109 km/h | 110-139 km/h | 140- km/h |
120 km/h | -145 km/h | 146-154 km/h | 155-199 km/h | 200- km/h |
Die Voraussetzungen für eine Notfallfahrt bzw. einen rechtfertigenden Notstand im Sinne von Art. 17 StGB nimmt das Bundesgericht bei einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung nur mit grosser Zurückhaltung an.
Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt gemäss Art. 17 StGB rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
Eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung durch Notstand bzw. Notstandshilfe ist gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts höchstens gerechtfertigt, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter wie Leib, Lebens und Gesundheit von Menschen in Frage steht. Selbst in solchen Fällen ist indessen Zurückhaltung geboten. Denn bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen ist die konkrete Gefährdung einer unbestimmten Zahl von Menschen möglich, die sich oft nur zufällig nicht verwirklicht. Eine Annahme eines Notstandes bzw. einer Notstandshilfe lässt das Bundesgericht nur dort gelten, wo Leib und Leben auf dem Spiel stehen. Zum Beispiel wenn ein Fahrzeuglenker jemanden, der schwer wiegende Krankheitssymptome aufweist, möglichst schnell ins Spital bringen muss, oder wenn der Fahrzeuglenker selber an einer lebensbedrohlichen gesundheitlichen Beeinträchtigung leidet, die ein unverzügliches Aufsuchen des Spitals erforderlich macht.
Das Bundesgericht bejahte dies bei einem Familienvater, der die Höchstgeschwindigkeit ausserorts um 30 km/h überschritt, nachdem ihn die Klink angerufen hatte, da sein Neugeborenes schwere Atemaussetzer hatte und er im Hinblick auf nötige Entscheidungen für das Kind unverzüglich in die Klinik kommen musste (Urteil des Bundesgerichts vom 17. Januar 2013, 1C_345/2012).
Der Beweggrund für einen Tierarzt ein erkranktes Tier rasch zu behandeln, rechtfertigt jedoch gemäss Bundesgericht eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung (in casu Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h innerorts) regelmässig nicht. Selbst wenn der Nachweis einer konkreten Gefährdung anderer nicht erbracht ist. Der zeitliche Gewinn von 2-3 Minuten vermag die mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung verbundenen möglichen Gefahren eines Unfalles, eventuell mit tödlichen Folgen, auch bei einigermassen geraden und übersichtlichen Strassen nicht zu rechtfertigen (Urteil des Bundesgerichts vom 16. März 2010, 6B_7/2010).
Ebenso befand das Bundesgericht eine erhebliche Beschleunigung des Personenwagens im Falle plötzlichen Unwohlsein und das Überholen mehrerer Fahrzeuge bei einer Geschwindigkeit von 124 km/h auf einer Kantonsstrasse, um sich so schnell wie möglich bei einem abseits gelegenen Transformatorenhäuschen erleichtern zu können, nicht als zweckmässige und in der Situation gebotene Reaktion. Der Beschwerdeführer hätte die Fahrgeschwindigkeit reduzieren und den Personenwagen zum Stillstand bringen müssen, um sich anschliessend von seinem Unwohlsein zu erholen (Urteil des Bundesgerichts vom 2. Oktober 2017, 1C_341/2017).
Auch auf Notfallfahrten sollten sich Fahrzeuglenker deshalb nach Möglichkeit an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten. Zudem sparen gemäss einer Studie der ADAC vom März 2011 Überholmanöver meist weniger Zeit als man glaubt. Durch Überholen lässt sich auf deutschen Landstrassen (Höchstgeschwindigkeit 100 km/h) relativ wenig Fahrzeit einsparen. Im Durchschnitt der Testfahrten waren es 9,5%. Bei durchschnittlichen Fahrstrecken von knapp 20 km sind das nur 1,5 Minuten. Nennenswerte Zeitvorteile ergaben sich fast nur durch das Überholen von Lastwagen.