Hypothetisches Einkommen nach Scheidung
Hypothetisches Einkommen einer 53-jährigen Ehefrau mit drei erwachsenen Kindern nach lebensprägender Ehe – Muss die 53-jährige Ehefrau ihre Erwerbstätigkeit nach der Trennung ausdehnen?
Das Bundesgericht hat in einer Serie von Urteilen entschieden, dass die Ehe keine automatische Lebensversicherung mehr ist. Neu gilt die Pflicht zur Eigenversorgung ab dem Zeitpunkt, in dem sich die Trennung abzeichnet. Die sogenannte „45er-Regel“ hat ausgedient: Auch Hausfrauen, die älter als 45 Jahre sind und den ursprünglichen Beruf zu Gunsten der Familie aufgegeben hatten, sollen nach einer Scheidung wirtschaftlich auf eigenen Füssen stehen. Unterhaltsbeiträge sind nur geschuldet, soweit der gebührende Unterhalt bei zumutbarer Anstrengung nicht oder nicht vollständig durch Eigenleistung gedeckt werden kann (vgl. BGE 141 III 465 E. 3.1 f.; BGE 134 III 145 E. 4 S. 146 f.).
Grundsätzlich gilt ein Vollzeiterwerb für eine getrennte Ehefrau mit erwachsenen Kindern als zumutbar. Ist eine Aufnahme oder den Ausbau einer Erwerbstätigkeit unmöglich, so hat die Ehefrau den Beweis zu erbringen (zum Beispiel mittels dokumentierter Arbeitssuche, ärztliche Gutachten).
Im folgenden Fall wurde der Ehefrau durch das Kantonsgericht St. Gallen (Entscheid vom 9. Juni 2022) schliesslich ein hypothetisches Einkommen von CHF 2‘200.00 angerechnet:
Die Ehefrau (53 Jahre alt) und der Ehemann (55 Jahre alt) heirateten 1990. Sie sind Eltern von drei erwachsenen Kindern. Im Jahr 2020 trennten sie sich. Der Unterhaltsanspruch der Ehefrau war strittig. Das erstinstanzliche Gericht hatte ein Einkommen von 1‘030.00 pro Monat bei der Ehefrau berücksichtigt (Geschäftserfolg der letzten 4 Jahre). Der Ehemann hatte immer im Vollpensum gearbeitet. Die Ehefrau hatte im Jahre 2013/2014 angefangen, bei der Z. GmbH zu arbeiten.
Die Vorinstanz erwog, es dürfte unrealistisch sein, dass die Ehefrau ihren Umsatz bzw. Gewinn aus ihrer Vertriebstätigkeit für die Firma Z. GmbH, deren Geschäftsmodell auf einer Art «Schneeballsystem» gründe, im Verhältnis zu einer Ausdehnung ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit erhöhen könnte. Das Kantonsgericht befand, für die Zukunft, nach Ablauf einer grosszügigen Übergangsfrist von ungefähr vier Monaten, sei es der Ehefrau möglich, mehr als Fr. 1100.00 pro Monat (Geschäftserfolg der letzten 3 Jahre) zu verdienen. Der Ehefrau stünden für einen Ausbau des Pensums immerhin Möglichkeiten zur Verfügung, z.B. der Ausbau der bisherigen Tätigkeit bei Z. GmbH, die Aufnahme bzw. der Ausbau der Tätigkeit als Coiffeuse oder etwas Drittes. Es waren keinerlei Bemühungen der Ehefrau aktenkundig, ihren Erwerb auszubauen. Das Kantonsgericht befand, es sei angezeigt, von der Ehefrau zu verlangen, dass sie ab Oktober 2022 ihr Einkommen wenigstens verdoppelt auf CHF 2‘200.00 pro Monat.