Übersetzung der Anklageschrift
Muss die Anklageschrift einem fremdsprachigen Beschuldigten übersetzt werden?
Mit Beschluss vom 25. Januar 2024 entschied das Obergericht des Kantons Zürich in Sachen Pierin Vincenz et al., dass das erstinstanzliche Gerichtsverfahren an einem schwerwiegenden, nicht heilbaren Mangel leide, weil dem französischsprachigen Beschuldigten F. die 356-seitige Anklageschrift nicht übersetzt worden sei, obwohl er dies mehrfach gefordet und gerügt habe. Ein Nachholen der Verfahrenshandlung (d.h. Übersetzung der Anklageschrift durch die Berufungsinstanz) hätte den Verlust einer Instanz zur Folge. Ein solches Verfahren wäre nicht mehr gerecht im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine Rückweisung der Anklge an die Staatsanwaltschaft sei unabdingbar.
Laut Art. 68 Abs. 2 StPO wird der beschuldigten Person, auch wenn sie verteidigt wird, in einer ihr verständlichen Sprache mindestens der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht.
Der Umfang der Übersetzungsbeihilfen, die einer fremdsprachigen Person zustehen, ist jedoch nicht abstrakt, sondern aufgrund ihrer effektiven Bedürfnisse und der konkreten Umstände des Falles zu würdigen (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3 S. 201 f.; 143 IV 117 E. 3.1 S. 120; Urteil 6B_1229/2021 vom 17. Januar 2022 E. 6.3.3).
Zu den wichtigsten Verfahrenshandlungen gehören in der Regel die Anklageschrift, die Instruktion des Verteidigers und die wesentlichen Vorgänge der mündlichen Hauptverhandlung (Urteil 6B_936/2019 vom 20. Mai 2020 E. 8.4.1). Je nach den Umständen des konkreten Falles können aber weitere Verfahrensbestandteile hinzukommen. Zu denken ist etwa an die Befragung von Zeugen und Gutachten. Wichtig erscheinende prozedurale Vorgänge und Akten müssen demnach – auf entsprechenden Antrag des Beschuldigten – übersetzt werden. Dazu gehört die Anklageschrift.